Signalwegvariationen an VLBI-Radioteleskopen
Interferometrie auf langen Basen
Die Interferometrie auf langen Basen (engl. Very Long Baseline Interferometry; VLBI) ist eine der wichtigsten geodätischen Raumtechniken um geodätische Referenzrahmen wie den International Terrestrial Reference Frame (ITRF) oder den International Celestial Reference Frame (ICRF) präzise zu bestimmen. Radioteleskope, die zur VLBI eingesetzt werden, sind Schwerkraft-bedingten Deformationen unterworfen. Diese Deformationen führen zu Variationen in der Signalweglänge und hängen von der Orientierung des Radioteleskops ab. Unberücksichtigt führen die lastfallabhängigen Deformationen zu systematischen Abweichungen, die die Genauigkeit und Zuverlässigkeit globaler Produkte wie bspw. Erdrotationsparameter oder den Netzmaßstab eines Referenzrahmens verzerren. Da das Deformationsverhalten reproduzierbar und somit modellierbar ist, hat der International VLBI Service for Geodesy and Astrometry (IVS) 2019 eine Resolution verabschiedet, die die Bestimmung von Signalwegvariationen an VLBI-Radioteleskopen durch lokale Vermessungen anregt. Die bisherigen Studien zeigen, dass jedes VLBI-Radioteleskop ein individuelles Deformationsmuster aufweist und somit eigenständig zu betrachten und zu untersuchen ist. Das Ziel des IVS ist die Bereitstellung von geeigneten Korrekturmodellen für jedes VLBI-Radioteleskop im globalen IVS-Netz.
Modellierung von Deformationen
Das bisher verwendete Standardmodell zur Modellierung von gravitativen Deformationen an der Empfangseinheit von VLBI-Radioteleskopen stammt aus dem Jahre 1988. Es berücksichtigt ausschließlich homologe Deformationen, die zu systematischen Abweichungen im Signalweg führen. Dies sind Deformationen am parabolischen Hauptreflektor, die durch Änderungen in der Brennweite ausgedrückt werden, eine Verschiebung des Empfängers bzw. des Subreflektors, und eine Positionsänderung des Scheitelpunktes gegenüber dem als invariant angenommenen Referenzpunkt der Parabolantenne. Die Kraftwirkungsrichtung wird im Standardmodell ausschließlich entlang der Hauptachse der Empfangseinheit berücksichtigt. Ferner wird unterstellt, dass die Deformationen zwar zu einer Änderung der Formparameter führen aber der Formtyp erhalten bleibt, d.h., die Oberfläche des Hauptreflektors kann stets durch ein rotationssymmetrisches Paraboloid beschrieben werden. Lediglich die Brennweite als einziger Formparameter verändert sich in Abhängigkeit der Orientierung des Radioteleskops. Der Mess- und Modellierungsaufwand kann hierdurch stark vereinfacht werden kann, da das ursprüngliche räumliche Problem auf ein deutlich einfacheres zweidimensionales Problem reduziert wird. Untersuchungen, die das Labor für Industrielle Messtechnik durchgeführt hat, zeigen jedoch, dass die Annahme von ausschließlich homologen Deformationen unbegründet ist, und die Empfangseinheit von beliebig wirkenden Kräften deformiert wird. Das bisherige Standardmodell kann daher lediglich als eine Approximation erster Ordnung angesehen werden. Für eine realitätsnahe Modellierung der auftretenden Deformationen sind deutlich komplexere Modelle zu entwickeln.
Zernike-Polynome zur Oberflächenmodellierung
Die meisten konventionellen VLBI-Radioteleskope nutzen ein rotationssymmetrisches Paraboloid als Hauptreflektorgeometrie. Die Krümmung der Fläche wird somit ausschließlich durch die Brennweite parametriert. Bei einer Ausrichtung des Radioteleskops in Richtung des Zenits wirkt die Gravitationskraft radialsymmetrisch auf die Empfangseinheit. Neigt sich das Radioteleskop jedoch in Elevation, wirkt die Gravitation asymmetrisch und verformt den Hauptreflektor in Abhängigkeit des Elevationswinkels. Durch eine Modellierung diese elevationsabhängigen Deformation durch ein Paraboloid wird unterstellt, dass diese asymmetrisch wirkenden Deformationen nur die Brennweite aber nicht den Geometrietyp verändern.
Im Gegensatz zum Standardmodell hat das Labor für Industrielle Messtechnik einen innovativen Ansatz entwickelt, der auf Zernike-Polynomen basiert. Zernike-Polynome werden in der Physik, insbesondere in der Optik, eingesetzt, um asphärische Oberflächenformen und Aberrationen bei Linsen mit kreisförmiger Aperture zu beschreiben. Jedes Zernike-Polynom kann hierbei als eine spezifischer optischer Abbildungsfehler interpretiert werden. Eine Defokussierung der Optik lässt sich bspw. durch ein Zernike-Polynom charakterisieren, welches einem Paraboloid mit variierender Brennweite entspricht. Das im Standardmodell verwendete Paraboloid ist somit Teil des vorgeschlagenen neuen Modellierungsansatz. Zur Modellierung der gesamten Apertur erfolgt einfach durch Überlagerung verschiedener Zernike-Polynome.
Oberflächenanalyse
Die Universität von Tasmanien betreibt seit 1985 das 26 m Radioteleskop am Mount Pleasant Radio Observatory in Hobart. Dieses Radioteleskop hat eine lange Historie und wurde u.a. beim Apolloprogramm der NASA (National Aeronautics and Space Administration) eingesetzt. Seit 1989 partizipiert das VLBI-Radioteleskop im internationalen IVS Netz. Da es auf der Südhalbkugel nur sehr wenige VLBI-Radioteleskope gibt, sind die langen Beobachtungsreihen des 26 m Radioteleskops essenziell für den globalen geodätischen Bezugsrahmen. Das Labor für Industrielle Messtechnik hat mittels hochpräziser Nahbereichsphotogrammetrie das 26 m Radioteleskop messtechnisch erfasst, um eine geeignete Korrekturfunktion zur Kompensation der schwerkraftbedingten Verformungen abzuleiten.
Basierend auf den Daten einer umfangreichen Messkampagne wurden die auftretenden Deformationen am Hauptreflektor untersucht. Der Vorteil des neuen Modellierungsansatzes gegenüber dem Paraboloid wurde mit einem Likelihood-Quotienten-Test evaluiert. Das Testergebnis war eindeutig und zeigte, dass der innovative Ansatz mit Zernike-Polynomen eine deutlich höhere Oberflächenanpassung erlaubt. Bereits bei einer Elevation von 50° sind die Unterschiede deutlich zu erkennen. Die Auswirkungen asymmetrischer Verformungen treten insbesondere bei kleinen Elevationswinkel hervor. Hier wird deutlich, dass das Modell des Paraboloids nicht geeignet ist, um die auftretenden Oberflächenverformungen sinnvoll zu modellieren.
Zonale Deformationen lassen sich mit einem Paraboloid nicht abbilden. Systematische Abweichungen bleiben im Modell und verzerren den modellierten Signalweg. Die Verwendung von Zernike-Polynomen parametriert diese systematischen Abweichungen deutlich besser, wobei lediglich drei zusätzliche Zernike-Polynome verwendet wurden. Die verbleibenden Oberflächenabweichungen streuen in einem Bereich von ±2 mm. Der Einsatz von Zernike-Polynomen empfiehlt sich, um die durch die Schwerkraft verursachten homologen und nicht-homologen zonalen Deformationen des Hauptreflektors adäquat zu modellieren.
Die Signalwegvariationen des 26 m Radioteleskopes wurden in Abhängigkeit der Teleskoporientierung durch numerische Integration mittels Ray-Tracing bestimmt. Die Laufzeitverzögerung beträgt etwa 5,7 ps. Dies entspricht einer Längenänderung von lediglich 1,7 mm im Signalweg. Im Vergleich zur veröffentlichten Werten von anderen konventionellen Radioteleskopen vergleichbarer Dimension ist diese Abweichung ca. fünf- bis zehnmal kleiner. Dennoch ist eine Korrektur empfehlenswert, um den Anteil systematischer Abweichungen in der VLBI-Datenanalyse zu minimieren und die Genauigkeit und Zuverlässigkeit von VLBI insbesondere auf der Südhalbkugel zu erhöhen.
Förderung
Dieses Forschungsprojekt DART — Deformationsabschätzungen für Radioteleskope — wurde vom IFOFO-3V – Validierung, Veredelung, Verwertung – Programm der Frankfurt University of Applied Sciences gefördert.
Publikationen
Lösler, M., Eschelbach, C., Greiwe, A., Zhou, B., McCallum, L.: Innovative approach for modelling gravity-induced signal path variations of VLBI radio telescopes. Earth, Planets and Space, 2024.
Lösler, M., Kronschnabl, G., Plötz, C., Neidhardt, A., Eschelbach, C.: On the consideration of frequency-dependent illumination functions in modelling signal path variations. In: Haas R., Schroth, E., Neidhardt, A. (Hrsg.): Proceedings of the 26th European VLBI for Geodesy and Astrometry (EVGA) Working Meeting, 11.-15. Juni 2023, Technische Universität München, Bad Kötzting, Deutschland, S. 114-120, 2023. DOI: 10.14459/2023md1730292
Lösler, M., Kronschnabl, G., Plötz, C., Neidhardt, A., Eschelbach, C.: Frequenzabhängige Modellierung von Signalwegvariationen an VLBI-Radioteleskopen. Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformatik und Landmanagement (ZfV), 148(3), S. 177-187, 2023. DOI: 10.12902/zfv-0429-2023
Greiwe, A., Brechtken, R., Lösler, M., Eschelbach, C., Kronschnabl, G., Plötz, C., Neidhardt, A.: Close-Range Photogrammetry for Antenna Deformation Measurements. In: Haas R., Schroth, E., Neidhardt, A. (Hrsg.): Proceedings of the 26th European VLBI for Geodesy and Astrometry (EVGA) Working Meeting, 11.-15. Juni 2023, Technische Universität München, Bad Kötzting, Deutschland, S. 70-75, 2023. DOI: 10.14459/2023md1730292
Lösler, M., Eschelbach, C., Greiwe, A., Brechtken, R., Plötz, C., Kronschnabl, G., Neidhardt, A.: Ray Tracing-Based Delay Model for Compensating Gravitational Deformations of VLBI Radio Telescopes. Journal of Geodetic Science, 12(1), S. 165-184, 2022. DOI: 10.1515/jogs-2022-0141
Lösler, M., Eschelbach, C., Haas, R.: Unified Model for Surface Fitting of Radio Telescope Reflectors. In: Haas, R., Elgered, G. (Hrsg.): Proceedings of the 23rd European VLBI for Geodesy and Astrometry (EVGA) Working Meeting, 15.-19. Mai 2017, Göteborg, Schweden, S. 29-34, 2017. ISBN: 978-9188041098
Ansprechpartner
Prof. Dr.-Ing.
Cornelia Eschelbach
Tel: +49 (0) 69 1533-2356
cornelia.eschelbach(at)fb1.fra-uas. de
Dr.-Ing.
Michael Lösler
Tel: +49 (0) 69 1533-2784
michael.loesler(at)fb1.fra-uas. de
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Fachbereich 1
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- Geodätisches Observatorium Wettzell
- Mount Pleasant Radio Observatory Hobart