SexuAL - Männer sind anders, Frauen auch
Das Forschungsprojekt
- Projektleitung: Prof. Dr. Ilka Quindeau, FRA-UAS
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Dipl. Soz.Päd. Hildegard Keul-Bogner
Das Projekt
Eine zufriedenstellende Sexualität gilt als Prädiktor für Gesundheit, für körperliches wie seelisches Wohlbefinden und vermittelt universelle Grundbedürfnisse wie Akzeptanz, Zugehörigkeit, Nähe, Geborgenheit und Sicherheit. Vor diesem Hintergrund widmet sich das Forschungsprojekt der Frage nach dem Umgang mit der Sexualität von Bewohner_innen in Altenpflegeeinrichtungen.
Die sexuelle Altersdiskriminierung trifft alte Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen besonders stark: das Bedürfnis älterer Menschen nach Sexualität und Erotik wird als störend empfunden und ausgegrenzt, ihre sexuellen Rechte finden kaum Beachtung. Die Akzeptanz sexueller Bedürfnisse älterer Menschen erfordert strukturelle Veränderungen und Flexibilität, zum Beispiel mehr Raum für Intimität und Zweisamkeit, und verlangt zudem von Institutionen und Pflegekräften, sich mit eigenen Tabus, Vorurteilen, Schamgrenzen und Moralvorstellungen auseinanderzusetzen. Zwar treten dem Mythos des asexuellen Alters inzwischen eine Reihe von Studien entgegen, doch auch hier werden die unterschiedlichen Konstruktionen der Sexualität von Frauen und Männern kaum berücksichtigt. Wenn überhaupt wird eine geschlechtsdifferenzierende Betrachtung nur im Ansatz aufgezeigt, häufig im Zusammenhang mit der weiblichen bzw. männlichen physiologischen sexuellen Reaktion und den entsprechenden altersbedingten Veränderungen oder sexuellen Funktionsstörungen. Doch erfordert die Diversifizierung sexueller Lebensformen auch im Alter einerseits und die Zunahme etwa von dementiellen Veränderungen bei älteren Frauen und Männern andererseits einen veränderten, differenzsensiblen professionellen Umgang in stationären Einrichtungen, in den auch mögliche sexuelle Gewalterfahrungen behutsam erfasst und aufgenommen werden müssen. Hinzu kommt häufig eine reservierte Haltung der Angehörigen (Ehepartner_innen, Kinder), die ihre eigenen Vorstellungen, Ängste und lebensgeschichtlichen Themen mitbringen, wenn zum Beispiel die Mutter oder der Vater eine neue Partnerschaft eingeht oder sexuelle Wünsche äußert. Die Pflegekräfte sind somit vielfältig gefordert und neben den zahlreichen Anforderungen und Pflichten, vor die Pflegekräfte im Alltag gestellt sind, bleibt bisher für das Thema Sexualität kaum Raum.
Forschungsansatz und Forschungsziele I
Im vorliegenden Pilotprojekt geht es zunächst um den professionellen Umgang in stationären Einrichtungen mit der Sexualität von Bewohner_innen. Dem Wissensbestand sowie den Einstellungen und Haltungen von Pflegekräften im Hinblick auf Sexualität im Alter kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Es gibt inzwischen in der Praxis einige Initiativen, die sich für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch in Pflegeeinrichtungen einsetzen und Fortbildungen anbieten. Es fehlt jedoch an der Entwicklung strukturierter professioneller Konzepte und Forschungen in diesem Zusammenhang, die evidenzbasierte Handlungsoptionen für die Gestaltung künftiger Maßnahmen ermöglichen.
Dazu umfasst das Pilotprojekt folgende drei Schritte:
- Es werden die Einstellungen und Haltungen von Pflegekräften gegenüber der Sexualität von älteren Männern und Frauen erhoben. Eine besondere Rolle spielen dabei auch konflikthafte Erfahrungen, etwa in Form sexueller Belästigungen und Grenzverletzungen, denen Pflegekräfte durch manche Bewohner_innen ausgesetzt sind.
- In Kooperation mit ProFamilia Hessen, die über langjährige Erfahrung in der Fort- und Weiterbildung von Fachkräften verfügt, werden Fortbildungen für Pflegekräfte entwickelt und durchgeführt. Ziel dieser Fortbildungen ist ein unterstützender, verstehender Umgang mit den sexuellen Wünschen und Problemen der Bewohner_innen.
- Die Wirkungen dieser Fortbildung werden evaluiert, um Aussagen über mögliche Veränderungen der Einstellungen und der professionellen Praxis treffen zu können.
Forschungsansatz und Forschungsziele II
Neben diesen Erhebungen sollen im Sinne einer Machbarkeitsstudie Möglichkeiten erprobt werden, die Perspektive der Bewohner_innen zu erheben und genauere Problembeschreibungen bezüglich des sexuellen (Er)Lebens älterer Frauen und Männer in Pflegeeinrichtungen zu erhalten. Im Zentrum stehen dabei die subjektiven Sichtweisen der Frauen und Männer, ihre sexuellen Wünsche, Ängste und Praktiken sowie ihre Möglichkeiten in den Einrichtungen, die eigenen sexuellen Bedürfnisse als Mann oder Frau zu leben. Das primäre Arbeitsziel besteht darin, für alle Bewohner_innen nachhaltig bessere Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, dass Sexualität – in ihrer Vielfalt sowie unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Faktoren – auch im stationären Bereich gelebt werden kann und Grenzen für Bewohner_innen wie Pflegekräfte gleichermaßen gewahrt bleiben.
Vor dem Hintergrund der übergeordneten Forschungsziele Abbau von Diskriminierung und Förderung von Partizipation und Selbstbestimmung können daher zusammenfassend folgende wissenschaftliche Ziele in den Vordergrund gestellt werden:
- Welche Einstellungen und Haltungen gegenüber der Sexualität von älteren Männern und Frauen lassen sich bei Pflegekräften identifizieren? Über welchen Wissensbestand verfügen sie – insbesondere im Hinblick auf geschlechtssensible Aspekte? Welche Konflikte gibt es?
- Inwieweit können diskriminierende Einstellungen durch Fortbildungen verringert werden?
- Wie gestaltet sich das sexuelle (Er)Leben für Frauen bzw. Männer im Alter, die in stationären Einrichtungen wohnen – v.a. unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte?
Auf Basis der systematisch zusammengetragenen Ergebnisse wird ein Großprojekt angestrebt, welches in einem Forschungsverbund auf eine repräsentative, geschlechtssensible Erhebung des sexuellen Erlebens zweier Alterskohorten (65- und 75-Jährige) an drei Standorten abzielt.