Vortragsreihe "Think Europe - Europe thinks" zum Thema Flucht und Migration: Scheitert Europa?
13. Oktober 2021, 18:00 - 20:00 Uhr
Am 13. Oktober 2021 diskutierten Prof. Dr. Jochen Oltmer, Professor für Neueste Geschichte und Vorstandsmitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, und Gerald Knaus, Mitgründer und Vorstandsmitglied der Europäischen Stabilitätsinitiative e.V., am Center for Applied European Studies (CAES) der Frankfurt University of Applied Sciences zusammen mit dem Geschäftsführenden Direktor des CAES Prof. Dr. Dr. Michel Friedman, zum Thema „Flucht und Migration: Scheitert Europa?“ in der Reihe „Think Europe – Europe thinks“.
Prof. Dr. Dr. Michel Friedman stellte in seiner Begrüßung fest, dass die Europäische Union mit jedem auf der Flucht verstorbenen Menschen gescheitert ist. Er betonte die Verantwortung der Europäischen Union und die Relevanz der Achtung der Menschenrechte, welche ein globales Versprechen seien. Man dürfe diese nicht zu einer Erzählung werden lassen, sondern müsse das Versprechen der Menschenrechte über Grenzen hinaus wahren und schützen.
In seinem Eingangsvortrag erläuterte Prof. Dr. Jochen Oltmer die Differenz zwischen „Flüchtlingen“ und „Binnenvertriebenen“. Statistiken zu ersteren zeigen, entgegen der negativen Rhetorik, eine Perspektive der Stabilität trotz Zunahme von Konflikten, bei einem Weltbevölkerungsanstieg um 45% seit 1990. Dabei nehme die Zahl an „Binnenvertriebenen“ deutlich zu. Mangelnde Ressourcen, aber auch politische Kontrolle führen dazu, dass es Menschen nicht möglich sei Grenzen zu überschreiten. In einer sich daraus ergebenden „migratorischen Klassengesellschaft“ gelinge es nur 1/3 an „Flüchtlingen“ Zuflucht in anderen Ländern zu suchen. Oltmer betonte die Diskrepanz zwischen sehr hohem Erklärungsbedarf „angesichts der Stabilität weltweiter Fluchtverhältnisse“ und angemessenen Erklärungsansätzen. Dabei verwies er auf signifikante Unterschiede in der Zu- und Abwanderung von „Flüchtlingen“ innerhalb der EU und zählte Zielkonflikte der europäischen Asyl- bzw. Fluchtpolitik auf. Abschließend stellte Oltmer, am Beispiel des 20-jährigen Afghanistaneinsatzes, ein Scheitern in der europäischen Fluchtursachenbekämpfung fest.
Gerald Knaus benannte brutale Grenzen, Pushbacks und Korruption als Ursachen für eine niedrige Zahl an irregulärer Migration. Dabei betonte er, dass rückläufige Asylanträge nicht die Konsequenz sinkender „Flüchtlingszahlen“ sind, sondern Menschen auf der Flucht oftmals nicht die Länder erreichen, die Asyl bieten könnten. Hier widerspräche nationales Recht in weiten Teilen EU-Recht, wie beispielsweise in Ungarn. „Es geht nicht ohne Gerichte. Doch Gerichte genügen nicht. Es geht nicht ohne Politik“. Als Initiator des EU-Türkei Abkommens plädierte er für die uneingeschränkte Wahrung des Völkerrechts und „den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung“. Nach dem Scheitern der Erklärung 2020 seien weniger Menschen in der Türkei und Griechenland angekommen. Knaus zeigte sich besorgt, dass sich dieses Modell der Pushbacks in Europa durchsetze. Als Alternative nannte er das Konzept des „Orderly Departure Program“ (übersetzt Ordentliches Abflugprogramm) und plädierte für die Organisation legaler Migration durch Resettlement-Koalitionen. Für den Koalitionsvertrag der neuen Deutschen Bundesregierung erhoffe er sich „Rechtstaatlichkeit an den Grenzen Europas, ein Ende des Sterbens, dafür brauchen wir Partner und Angebote, weniger irreguläre Migration, durch legale Wege“.
In der anschließenden Diskussion wies Oltmer auf die Komplexität des Themas hin und führte aus, dass die Bereitschaft zu helfen in vielen, auch europäischen, Ländern begrenzt vorhanden sei. Dabei hob er nochmals die Relevanz hervor die Konstellationen und Entwicklungen aus 2015 zu erklären und besonders die innenpolitische Lage der europäischen Staaten miteinzubeziehen. Er kritisierte, dass das Instrument des „Resettlement“ seit langer Zeit angewandt, der politische Wille es umzusetzen, jedoch nur sehr begrenzt gezeigt würden. In der weiteren Diskussion wurden die fehlende kooperative Debatte sowie die Problematik der kulturellen Vorurteile um das Thema Flucht und Migration erörtert. Dabei stellte Friedman die Frage in den Raum was es brauche, um in Gesellschaften solche Debatten möglich zu machen, damit „diese Fragen genauso in Bewegung sind wie die Menschen die zu uns kommen“. Knaus erläuterte die problematische Wahrnehmung und Rhetorik, welche besonders von Rechtspopulisten genutzt würde und Angst sowie das Gefühl von Kontrollverlust in den Bevölkerungen schüre. Diese gingen davon aus, dass „niedrige Zahlen irregulärer Migration“ Vorboten von einem „Austausch der Bevölkerungen“ seien. Weiter diskutierten Friedman und die geladenen Referenten über den Umgang mit Flucht und Migration im Vergleich zwischen Demokratien und Diktaturen. Oltmer ergänzte, dass politische Orientierungen sowie die zu beobachtende Perspektive eine zentrale Rolle bei der Betrachtung des Themas spielen. Bei der Entwicklung von Solidarität und Empathie komme es nach Knaus besonders darauf an, welche Geschichten wie erzählt und dann aber auch gemeinsam, europäisch umgesetzt würden.
Die Fragen der Zuschauer*innen, moderiert durch Friedman, richteten sich an die amerikanische Migrationspolitik, humanitäre Visa als legale und sichere Wege zur Schutzgewährung und Einreise nach Europa sowie die Möglichkeit der Vermeidung von Fluchtursachen.
Abschließend merkte Friedman an, dass in der Frage um den Umgang mit „Flüchtlingen“ gleichzeitig bedacht werden solle „ich könnte morgen selbst einer sein“.
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